Liebesbrief von der Natur

Lieber Mensch,

Ich liebe es, wenn Du auf mir herumwanderst, wenn Du Dir meine schönsten Seiten ansiehst und durch meine Wälder, Auen und Wüsten streifst, wenn Du mir aufs Haupt steigst und ich Dir so gefalle, dass Du sagst "Ich liebe die Berge."

Ich bewundere, wie elegant Du Dich im Winter auf meinen weißen Flanken bewegst. Wenn Du im Schnee Deinen furiosen Brettertanz aufführst, erfreuen mich Deine Spuren tagelang. Wenn ich Dich spüre und beobachte, wie Du in schwindelnden Höhen an mir kletterst. Wie Du Dich an mir festkrallst, mein Relief geschickt ausnutzt, dann imponieren mir Dein Mut, Deine Entschlossenheit und Deine leidenschaftliche Hingabe.

Warum aber machst Du so viele Probleme? Im Sommer schmelzen meine Gletscher, das raubt mir die Schönheit und macht mich traurig. Immer weniger kann ich Dir meine Schöpfung in ganzer Pracht zeigen, und Dein Tun erzeugt bei mir Reaktionen, die Dir und mir nicht gefallen. Warum verteilst Du Dich nicht. Warum kommst Du in Scharen und immer zu den gleichen Orten, sodass es mir, und auch Dir - manchmal zu viel wird?

Wenn Du stürzt, dann stimmt mich das nachdenklich. Oft liegt es daran, dass Du nicht richtig in Beziehung zu mir bist. Du vertraust zu sehr auf die von Dir selbst geschaffene künstliche Welt. Überhaupt stelle ich oft fest, dass Du nicht wirklich bei mir bist. Entweder bist Du in Gedanken woanders oder Du bist so hektisch unterwegs, als ob Du vor mir oder Dir selbst wegrennen wolltest. Dein ganzes Verhalten wird mir immer fremder.

Lieber Mensch, Du weißt, dass ich Dich liebe und Deine Freiheit bewundere. Von ganzem Herzen freue ich mich an Deinem Tun. Liebst Du auch mich und meine Berge? Tust Du das wirklich? In unserer Beziehung fehlen mir manchmal Dein Respekt und Deine Achtung. Ich fühle mich dann ganz leer und unverstanden; besonders, wenn Du mir weh tust und mich verletzt - ich breche dann förmlich auseinander! Ich habe große Sorge, dass auch unsere Beziehung zerbricht, dass Du Dich immer mehr von mir entfernst, obwohl Du glaubst, ganz nahe bei mir zu sein. Das Gegenteil scheint mir der Fall, ich habe den Eindruck. Dass Du bei Deinem Tun vor allem Dich liebst und ich nur eine Bühne für Dich bin. Wenn Du mich wirklich liebst, warum lässt Du mich nicht hin und wieder in Ruhe und klärst Deine Gefühle und Dein Handeln mir gegenüber?

Lieben heißt doch vor allem Geben. Du weißt, dass ich Dir fast alles von mir gebe. Warum nimmst Du nur, obwohl Du sagst: "Ich liebe die Berge?"

Stefan Winter

Ressortleiter Sportentwicklung des Deutschen Alpenvereins

Text aus Ausgabe/109/#bergundsteigen